"Lachen Sie nicht, meine Herren ..."
Zur Uraufführung des "Pastoralen Vorspiels für Orchester"
von Hans Rott
Da es um seinen Lieblingsschüler Hans Rott ging, wurde
Anton Bruckner energisch. Carl Hruby berichtet über
einen Vorfall am Konservatorium der Gesellschaft der
Musikfreunde im Juli 1878: "Am Schlusse ertönte vom
Merkerstuhle - pardon, vom Prüfungstische her - höhnisches
Lachen. Da erhob sich der sonst so ängstliche Bruckner
und rief den ‚Merkern' da unten die flammenden Worte
entgegen: ‚Lachen Sie nicht, meine Herren, von dem Manne
werden Sie noch Großes hören!'" Welches Werk Rotts die
Herren des Konservatoriums zum Spott reizte, wird in
dem Bericht nicht gesagt; es handelte sich - mit großer
Wahrscheinlichkeit - um den ersten Satz der E-Dur-Symphonie
des jungen Komponisten, eines Werkes, das mehr als hundert
Jahre nach seiner Entstehung eine unvermutete Renaissance
erlebte und eine breite Öffentlichkeit mit dem bisher
so gut wie unbekannten Namen "Rott" konfrontierte.
Anton Bruckners Prophezeiung konnte sich freilich nur
zum Teil erfüllen. Als am 25. Juni 1884 der kaum sechsundzwanzigjährige
Hans Rott, Patient der niederösterreichischen Landesirrenanstalt,
an Tuberkulose starb, gehörten die hochgespannten Hoffnungen
und Erwartungen, die seine Freunde in ihn gesetzt hatten,
bereits seit geraumer Zeit der Vergangenheit an. Fast
vier Jahre lang hatte der tragische Lebensepilog des
von den Ärzten aufgegebenen, an "halluzinatorischem
Irrsinn und Verfolgungswahn" erkrankten Musikers gedauert,
der als Schüler des Konservatoriums die Anerkennung
Anton Bruckners, als Komponist die Bewunderung eines
kleinen, aber erlesenen Freundeszirkels erregt hatte,
eines Kreises, dem während seiner frühen Wiener Jahre
auch Gustav Mahler angehörte.
Mit dem Namen Mahler ist das Stichwort gefallen, das
die Wiederentdeckung Rotts während der achtziger Jahre
unseres Jahrhunderts wesentlich bestimmte. Wieder einmal
mußte der Anstoß "von außen" kommen: Der englische Musikwissenschaftler
Paul Banks befaßte sich im Zuge seiner archivalischen
Studien zur Jugend Gustav Mahlers und dessen Wiener
Freundeskreis auch mit Hans Rotts künstlerischem Nachlaß,
der sich seit 1950 in der Musiksammlung der Österreichischen
Nationalbibliothek befindet. Das Manuskript der Symphonie
in E-Dur erregte sein Interesse, nicht zuletzt wegen
des außergewöhnlichen Lobes, das Gustav Mahler diesem
Werk viele Jahre nach dem Tod des Jugendfreundes gegenüber
Natalie Bauer-Lechner gezollt hatte: "Was die Musik
an ihm verloren hat, ist gar nicht zu ermessen: zu solchem
Fluge erhebt sich sein Genius schon in dieser Ersten
Symphonie, die er als zwanzigjähriger Jüngling schrieb
und die ihn - es ist nicht zu viel gesagt - zum Begründer
der neuen Symphonie macht, wie ich sie verstehe. Allerdings
ist das, was er wollte, noch nicht ganz erreicht. Es
ist, wie wenn einer zu weitestem Wurfe ausholt und,
noch ungeschickt, nicht völlig ans Ziel hintrifft. Doch
ich weiß, wohin er zielt. Ja, er ist meinem Eigensten
so verwandt, daß er und ich mir wie zwei Früchte von
demselben Baum erscheinen, die derselbe Boden gezeugt,
die gleiche Luft genährt hat. An ihm hätte ich unendlich
viel haben können und vielleicht hätten wir zwei zusammen
den Inhalt dieser neuen Zeit, die für die Musik anbrach,
einigermaßen erschöpft."
Es scheint, daß Mahler zu dieser Zeit - im Sommer 1900
- eine Aufführung der Symphonie ins Auge faßte, zu der
es jedoch, aus welchen Gründen auch immer, nicht kam.
Das Werk schlummerte weiterhin in Schubladen und Archiven,
bis Paul Banks das Aufführungsmaterial herstellte und
die Uraufführung (4. März 1989) in Cincinnati unter
Gerhard Samuel initiierte. Das Echo war groß und international;
kurze Zeit später konnte man Rotts Symphonie auch in
Paris, London und Wien hören. Fast gleichlautend vermerkte
die Kritik bei diesem Werk eine Reihe von auffallenden
Mahler-Anklängen, besser gesagt -Antizipationen, da
die Symphonie viele Jahre vor Mahlers symphonischem
Erstling entstanden war. "Mahlers Nullte oder Rotts
Erste?" fragte anläßlich der Wiener Erstaufführung durch
die Wiener Symphoniker unter Carlos Kalmar am 4. März
1990 Wolfgang Fuhrmann im "Standard" und zog das Resümee:
"Unweigerlich drängt sich die Vermutung auf, daß die
Studienfreunde Rott und Mahler in engem musikalischen
Gedankenaustausch gestanden haben müssen."
Ähnlich dürften die Dinge bei dem Werk liegen, das
nun - immerhin bereits 120 Jahre nach seiner Entstehung
- seine Uraufführung erleben wird: dem "Pastoralen Vorspiel
für Orchester", beendet 1880, also kurz nach Fertigstellung
der Ersten Symphonie. Zum "Pastoralen Vorspiel" ist
der biographischen Rott-Literatur so gut wie nichts
zu entnehmen; umso gespannter darf man sein, ob sich
das Phänomen des "vorweggenommenen Mahler" auch in der
Klanggestalt dieses Werkes kundtun wird, dessen Partitur
aus solchem Blickwinkel einiges verspricht. Vor allem
die von Vogellauten und Haltetönen bestimmte Naturszene
am Beginn von Mahlers Erster erscheint als Reminiszenz
mancher Stellen des "Pastoralen Vorspiels", das - im
Gegensatz zur Symphonie - nicht zur Präsentation vor
einer Prüfungskommission gedacht war, wodurch der klanglichen
und formalen Phantasie des Komponisten keinerlei Schranken
auferlegt wurden. Und so drängt sich die Frage auf:
Welche Beziehung bestand zwischen Rott und Mahler? Entsprach
der musikalischen Verwandtschaft tatsächlich eine Gleichgestimmtheit
der Charaktere?
Eine - allerdings äußerst subjektive - Antwort gab
Rotts Jugendfreund Heinrich Krzyzanowski, der in seinen
schriftlichen Erinnerungen über die Beziehung zu Mahler
festhält: "Nebenbei: zwischen Rott und Mahler hat, soviel
sie auch beisammen waren, eine richtige Freundschaft
nie bestanden ..." Tatsächlich ist auch keine Aussage
Rotts überliefert, die auf eine engere Freundschaft
mit Mahler hindeutet; auch dürfte sich Mahler aus dem
Musiker-Freundeskreis, der sich in den Jahren 1877 und
1878 regelmäßig in Rotts Zimmer im Piaristenkloster
traf, nach 1878 zurückgezogen haben. Rotts tragisches
Schicksal und der sehr individuelle Gestus seiner Musik
scheinen auf den um nur zwei Jahre jüngeren Kollegen
aber einen tiefen Eindruck gemacht haben, der - man
denke an die Bemerkung gegenüber Natalie Bauer-Lechner
- über Jahrzehnte hinweg lebendig blieb und Rott in
Mahlers Denken gewissermaßen zu einer Symbolfigur des
Scheiterns machte.
Anläufe, enttäuschte Hoffnungen: unter diesem Motto
steht Rotts kurzer Lebensweg. Am 1. August 1858 als
Sohn des Schauspielers Carl Matthias Rott geboren, absolvierte
der Knabe zunächst das Akademische Gymnasium und zwei
Jahre einer Handelslehranstalt. Erst dann dürfte ihm
die Berufung zur Musik klar geworden sein; ab 1874 studierte
er am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde
(Orgel bei Bruckner, Harmonielehre bei Grädener, Komposition
bei Krenn). Wagner, der Abgott des Bruckner-Kreises,
zog auch ihn in seinen Bann: 1875 trat Rott dem Wiener
akademischen Wagner-Verein bei, 1876 besuchte er die
ersten Bayreuther Festspiele. Während der folgenden
zwei Jahre war er - unter sehr kärglichen Lebensverhältnissen
- Organist des Josefstädter Kirchenmusikvereins und
lebte im Piaristenkloster. Die Organistenstelle gab
er 1878 auf, im gleichen Jahr beendete er seine Studien
am Konservatorium, und nun begann eine zweijährige,
von wiederholten Mißerfolgen bestimmte Suche nach einer
festen Anstellung.
Seine Unterhandlungen mit St. Florian und Klosterneuburg
blieben ebenso vergeblich wie seine Bewerbungen an der
Michaeler- und Votivkirche in Wien. Bruckner half mit
Empfehlungsschreiben; eines blieb im Rott-Nachlaß erhalten:
"Es gereicht Gefertigtem zum großen Vergnügen, konstatieren
zu können, daß er an Herrn Hans Rott während dessen
Studienjahre am Conservatorium einen Kunstjünger kennenlernte,
der vermöge seines ganz vorzüglichen Talentes, Fleißes
und sittlich reinen Charakters sowohl, wie nicht weniger
durch damals schon gediegene Kunstleistungen auf musikalischem
Gebiete, und besonders auf der Orgel zu bedeutenden
Hoffnungen berechtigte."
Gefühlsbetonte Ortsgebundenheit und eine Liebesbeziehung
fesselten Rott an Wien, doch immer klarer erwies es
sich, daß er hier keine Zukunft hatte. Allerdings waren
die Jahre bis 1880 bei aller Sorge um das materielle
Überleben auch eine schöpferische Phase; nicht nur die
Symphonie in E-Dur entstand in diesem Zeitraum, sondern
auch - parallel dazu - das "Pastorale Vorspiel" und
das (kompositorisch höchst avancierte) Streichquartett
in c-Moll. Rott bewarb sich um den Beethoven-Preis und
das Staatsstipendium für Musiker und reichte 1880 die
Symphonie und das "Pastorale Vorspiel" im Unterrichtsministerium
ein, weiters schienen ihm Besuche bei den Mitgliedern
der Preiskommission angebracht, der auch Johannes Brahms
angehörte. Der Besuch bei Brahms dürfte für den jungen
Komponisten, dessen hochgradige Nervosität bereits eine
psychische Krise ankündigte, ein traumatisches Erlebnis
gewesen sein. Brahms habe sich, wie Rott danach seinen
Freunden berichtete, schroff ablehnend über die Symphonie
geäußert und hinzugefügt, "das könne er unmöglich selbst
gemacht haben".
Eine schwere Belastung bedeutete für Rott zudem der
bevorstehende Abschied von Wien, denn eine halbherzig
abgegebene Bewerbung um die Position des Leiters der
elsässischen Chorvereinigung "Concordia" hatte Erfolg
gehabt; Rott mußte die Stellung antreten und reiste
Ende Oktober 1880 von Wien ab. Im Zug kam es zur Katastrophe.
Rott bedrohte einen Mitreisenden, der sich eine Zigarre
anzünden wollte, mit dem Revolver: Brahms habe den Zug
mit Dynamit füllen lassen. Er wurde nach Wien zurückgebracht
und in die Psychiatrische Klinik des Allgemeinen Krankenhauses
eingewiesen. Den Rest seines kurzen, tragischen Lebens
verbrachte er hinter den Mauern psychiatrischer Anstalten.
Es mag zynisch anmuten, ein solches Lebensschicksal
im Rückblick als "interessanter" zu klassifizieren als
eine wohlgeordnete, "normale" Biographie. Sicherlich
rechtfertigt es nicht eo ipso das Interesse an den hinterlassenen
Kompositionen; diese müssen sich im Konzertbetrieb durch
ihre eigenen, immanenten Qualitäten legitimieren. Die
Symphonie in E-Dur hat die Prüfung durch die Öffentlichkeit
bereits bestanden, dem "Pastoralen Vorspiel" steht sie
noch bevor. Sicherlich läßt sich einiges aufgrund der
Partitur über das Werk sagen: daß es als breit angelegtes
Crescendo konzipiert ist, sich in ein Präludium und
eine Fuge gliedert, kammermusikalisch-raffinierte Instrumentation
zeigt und Zeugnis für die kontrapunktische Phantasie
seines Schöpfers ablegt. Doch erst das reale Klangereignis
wird erweisen, ob das Eigentliche gelungen ist. Und
das wäre die Entdeckung eines Werkes, das uns als unmittelbares
musikalisches Erlebnis begegnet, nicht nur im Sinne
einer späten "Ehrenrettung" Hans Rotts.
Weitere Informationen über die "Internationale Hans
Rott Gesellschaft" finden Sie unter: http://www.hans-rott.de/
; www.hans-rott.org
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