Rott erhoffte sich von dem Öffentlichwerden seiner
Symphonie eine Änderung seiner mittlerweile unhaltbar
gewordenen Lage in Wien; er hatte keine Existenz sichernde
Stellung, die Lektionen, die er erteilte, reichten offenbar
bei Weitem nicht aus, seinen Lebensunterhalt zu gewährleisten.
Seit Ende Dezember 1879 verließ er sich fast ausschließlich
auf die Unterstützung seines Freundes Joseph Seemüller38.
Zwar stand Rott seit Juli 1880 mit der Musikvereinigung
Concordia in Mulhouse/Elsass zwecks Übernahme der dortigen
Chorleiterstelle in Unterhandlung; aber er tat sich
schwer, den Gedanken einer Existenz in seiner Heimatstadt
Wien fürs Erste aufzugeben und war bemüht, alles zu
unternehmen, was ihm diesen Schritt ersparen könnte.
Die Symphonie reichte er nicht nur zur Bewerbung um
das Stipendium ein, sondern er bemühte sich auch um
eine Aufführung des Werkes in Wien, indem er Hans Richter,
dem Dirigenten der Philharmonischen Konzerte, in einem
zwischen Devotion und Sendungsbewusstsein schwankenden
Schreiben vom 23. August von Glashütte aus einen Besuch
für die darauf folgende Woche ankündigt, um Richter
mit der Symphonie bekannt zu machen. Richter scheint
Rott indes nach erneuter mündlicher Nachfrage freundlich
abgewimmelt zu haben; an Seemüller berichtet Rott am
6. September:
"Richter gesprochen, ungemein lieb gewesen; er hat
sich entschuldigt, daß er mir nicht antwortete und
er hat doch so viel zu thun - 21. ds. ‚Meistersinger'.
Donnerstag fahre ich zu ihm nach Weidling, allwann
er, die ganze Arbeit in Partitur sorgsamst mit mir
durchzunehmen versprach, von selbst verständlich,
während meines Vorspielens und dann einiges Zweifelhafte.
Heute im Ministerium gewesen; morgen bekomme ich meine
Partitur heraus. Heute schreibe ich Geiern, der sie
morgen nachmittag gleich bekommt, damit ich sie Donnerstag
resp. Mittwoch Abends habe für Richter."39
Der Kopist Geyer sollte die Partituren erhalten, um,
so optimistisch war Rott, Stimmauszüge für die erhoffte
Aufführung herzustellen. Im Ministerium war er gewesen,
um die für die Bewerbung um das "Staatsstipendium" eingereichte
Partitur zurückzuerhalten. Doch aus dem neuerlich anvisierten
Besuchstermin bei Richter am Donnerstag der Woche, es
handelt sich um den 9. September, wurde nichts; Richter
hatte Rott versetzt; am gleichen Tage noch beklagt sich
dieser bei Freund Seemüller:
"Ich kam soeben von Weidling - Richter hat auf unsere
Besprechung vergessen und war gar nicht draußen. O
dieses starke Geschlecht! diese Kraft! Nicht einmal
mehr genug, daß sie einem sagen könnten: ‚Ich habe
momentan viel zu thun, kommen Sie ein ander Mal' [...]
Wenn mich einer zur Thüre hinausschmeißt, ist es mir
lieber als so etwas im Hinblick auf beide Theile."40
Dennoch mag er die Hoffnung auf Richter nicht aufgeben
("Also warten wir!") und redet sich die Lage schön:
"Richter muß sich bestimmt erklären; er kann es; er
führte eine Ouverture von Tschaikowski vor Jahren auf
eigene Faust ohne Probe auf."41
Eine Woche später, am 16. September erfährt Freund Friedrich
Löwi/Löhr bündig: "Richter noch nicht gesehen, vielleicht
morgen [...]."42
Auch aus dieser Absprache scheint nichts geworden zu
sein, ebenso aus einer weiteren für den 13. Oktober,
denn Richter entschuldigt sich an diesem Tag schriftlich
bei Rott für "mein heutiges Versäumniß", verspricht
aber gleichzeitig, sich das Werk genau anzusehen, und
bittet ihn für den nächsten Tag zu sich.43
Wie Richter die Symphonie aufgenommen hat, berichtet
Maja Loehr:
"Richters Urteil über die Symphonie soll nach mündlicher
Überlieferung sehr anerkennend und ermunternd gewesen
sein, aber - zur Aufführung durch die Philharmoniker
hat er das Erstlingswerk nicht angenommen."44
Doch auch in der Angelegenheit des Stipendiums will
Rott tätig werden; er sucht zu erfahren, wer als Juror
über seine Eignung zu urteilen hat. "Bei der Commission
[für den Staatspreis] ist außer Brahms und Hanslick
noch Goldmark dabei"45,
teilt er Joseph Seemüller am 9. September mit. Er spricht
im Ministerium vor, macht sich Hoffnungen und plant,
sich bei den Juroren persönlich vorzustellen; am 16.
September schreibt er an Friedrich Löwi/Löhr: "[...]
im Ministerium geht Alles sehr gut, die Aussichten auf
das Stipendium gestalten sich günstig. [...] jedenfalls
aber morgen bei Hanslick + Brahms."46
Der Besuch bei Johannes Brahms, der dem zitierten Brief
zu Folge am 17. September Statt gefunden haben dürfte,
muss katastrophal für Rott verlaufen sein; zwar ist
nur Anekdotisches überliefert, doch kommt der Bericht
Joseph Seemüllers der Wahrheit sicherlich ziemlich nahe;
Brahms habe geäußert, dass "neben so Schönem wieder
so viel Triviales und Unsinniges in der Komposition
sei, daß dies erstere nicht von Rott herrühren könne."47
Ein paar Wochen später, wahrscheinlich am 22. Oktober
188048,
- Rott ist auf der Reise von Wien nach Mulhouse, die
Stellung in Mulhouse hatte er nolens volens annehmen
müssen - hindert er einen Mitreisenden mit vorgehaltener
Pistole daran, sich eine Zigarre anzuzünden, weil er
dem Wahn anhing, Brahms habe den Zug mit Dynamit anfüllen
lassen. Am 23. Oktober wird Rott "in vollständig verworrenem
Zustande"49
in die Psychiatrische Klinik im Allgemeinen Krankenhaus
in Wien eingewiesen. Am 16. Februar 1881 mit der Diagnose
"Verrücktheit, halluzinatorischer Verfolgungswahn"50
in die Niederösterreichische Landes-Irrenanstalt überstellt,
stirbt er dort am 25. Juni 1884 noch nicht sechsundzwanzigjährig.
Wie eine Ironie des Schicksals mutet es an, dass Rott
mit Schreiben vom 15. März 1881 von der "K. k.
nö. Statthalterei" trotz des negativen Urteils von Brahms
das Stipendium des Unterrichtsministeriums bewilligt
bekommen hat.51
Für die bei Ries
& Erler erschienene Partitur wurden folgende Quellen
ausgewertet:
· Partiturabschrift, Satz 1
· autographe Partituren, Sätze 2-4
· autographe Einlegeblätter zu Satz 1
· Stimmsätze von Kopistenhand, Sätze 1-3
· Stimmsatz, teils von Kopistenhand, teils autograph;
Satz 1
· autographe Skizzen zu den Sätzen 1-4
· autographe Skizze zu Satz 2
· zwei autographe Skizzen zu Satz 4
Sämtliche vorgenannten Dokumente befinden sich in der
Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek
Wien.
Bert Hagels
(aus dem Kritischen Bericht zur Partiturausgabe
der Symphonie E-Dur, Berlin: Ries & Erler, 2002-2003)
1So
Helmuth Kreysing, Vorwort, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer
Riehn (Hrsg.): Hans Rott. Der Begründer der neuen Symphonie
(= Musik-Konzepte 103/104), München 1999, S. 5-8; hier
S. 5.
2Vgl.
Helmuth Kreysing/Frank Litterscheid: Mehr als Mahlers
Nullte! Der Einfluß der E-Dur Sinfonie Hans Rotts auf
Gustav Mahler, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn
(Hrsg.): Gustav Mahler. Der unbekannte Bekannte (= Musik-Konzepte
91), München 1996, S. 46-64. Dort auch eine kurze Darlegung
des psychisch ambivalenten Verhältnisses Mahlers zu
Rott.
3Werknummerierung
nach Leopold Nowak: Die Kompositionen und Skizzen von
Hans Rott in der Musiksammenlung der Österreichischen
Nationalbibliothek, in: Günter Brosche (Hrsg.): Beiträge
zur Musikdokumentation. Franz Grasberger zum 70. Geburtstag,
Tutzing 1975, S. 273-340. Ein Verzeichnis der aufführbaren
Kompositionen legte Helmuth Kreysing vor, in: Heinz-Klaus
Metzger/Rainer Riehn (Hrsg.): Hans Rott, a.a.O., S.
157-171. Eine übersichtliche Konkordanz beider Verzeichnisse
bietet Uwe Harten, in: ders. (Hrsg.): Hans Rott (1858-1884).
Biographie, Briefe, Aufzeichnungen und Dokumente aus
dem Nachlaß von Maja Loehr (1888-1964), Wien 2000, S.
28-31.
4Zitiert
nach: Helmuth Kreysing (Hrsg.): Hans Rotts schriftlicher
Nachlaß, in: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hrsg.):
Hans Rott, a.a.O., S. 45-156, hier S. 63. Die durch
Überstreichung als verdoppelt gekennzeichneten Konsonanten
"m" und "n" werden hier und im Folgenden ausgeschrieben.
5Nach
Kreysing, op. cit., S. 63 handelt es sich um die Suite
E-Dur (Nr. 33).
6Kreysing,
op. cit., S. 64.
7Kreysing,
op. cit., S. 67; Franz Krenn (1816-1897) war von 1869
bis 1893 Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und
Komposition am Wiener Konservatorium und Lehrer Rotts
wie Mahlers.
8Zitat
laut Mitteilung von Uwe Harten; danach ist der Tagebucheintrag
bei Kreysing, op. cit., S. 147, nicht korrekt zitiert.
9Op.
cit., S. 147f. Hervorhebungen im Original.
10Robert
Lach: Geschichte der Staatsakademie und Hochschule für
Musik und darstellende Künste in Wien, Wien, Prag, Leipzig
1927, S. 61.
11Carl
Hruby: Meine Erinnerungen an Anton Bruckner, Wien 1901,
S. 12f.; vgl. August Göllerich/Max Auer: Anton Bruckner,
Bd. IV/1, Regensburg 1936, S. 441; und Maja Loehr: Hans
Rott. Biographie (1949), in: Uwe Harten (Hrsg.): Hans
Rott (1858-1884). Biographie, Briefe, Aufzeichnungen
und Dokumente aus dem Nachlaß von Maja Loehr, Wien 2000,
S. 51-96; hier S. 64.
12Hruby,
a.a.O.; hier zitiert nach Nowak, op. cit., S. 273.
13Vgl.
Maja Loehr: Hans Rott., in: op. cit. S. 64.
14Kreysing,
op. cit., S. 68; Kreysing datiert den Brief mit "Juni
1878", obwohl seiner eigenen Anmerkung zu Folge auf
dem Briefumschlag der vermutlich von Maja Loehr stammende
Vermerk "Mitte Juli (vor dem 15.) 78" zu finden ist;
sowohl die zitierte Anspielung Rotts als auch die später
im Brief erfolgende Erwähnung der "glücklichen Absolvierung"
Rudolf Krzyzanowskis legen nahe, dass der Brief nach
dem 02. Juli und vor dem 15. Juli 1878 geschrieben wurde.
Rudolf Krzyzanowski hatte beim "Konkurs" am 02. Juli
einen Ersten Preis gewonnen; vgl. Maja Loehr: Hans Rott.
Biographie, a.a.O., S. 64.
15Vgl.
die Briefe an Heinrich Krzyzanowski vom 20. 07. (Kreysing,
op. cit., S. 70); 26. 07. (Kreysing, op. cit., S. 71);
05. 08. (Kreysing, op. cit., S. 72) und vom 15. 08.
(Kreysing, op. cit., S. 73).
16Vgl.
Harten, op. cit., S. 110.
17Unter
diesem Datum Eintrag ins Tagebuch: "8 Uhr Morgens in
Eger angelangt." Harten, op. cit., S. 110.
18Vgl.
den Brief Rotts an Heinrich und Rudolf Krzyzanowski
vom 26. 09.; Kreysing, op. cit., S. 74.
19Sk1-4;
näheres s. unten zu Quellen. Die Reihenfolge der zum
größten Teil von Rott paginierten Skizzenblätter ist
bei der Kollation offenbar durcheinander geraten; auf
die Rekonstruktion der ursprünglichen Reihenfolge kann
hier nicht näher eingegangen werden.
20Nowak,
op. cit., S. 303, gibt als weiteres Datum in den auf
den zweiten Satz sich beziehenden Skizzen "? 8. 78"
an. Damit ist offensichtlich eine Angabe auf Seite 1
der Skizze gemeint, auf der allerdings zwischen der
ersten "8" und dem folgenden "78" kein Punkt zu erkennen
ist, so dass sich zusammen mit einem durch Anfangsschnörkel
verunklarten Längsstrich lediglich die Jahreszahl "1878"
ergibt.
21Nowak,
ebd., liest das erste der angegebenen Daten; doch auch
hier ist die Angabe keineswegs eindeutig zu entziffern;
es könnte sich wiederum um die reine Jahresangabe "1879"
oder um eine Zahlenangabe, die nichts mit einem Datum
zu tun hat, handeln.
22Vgl.
Nowak, ebd. Die Entstehung dieses Satzes wäre näherer
Betrachtung wert; denn die Datierung der Skizzen weist
aus, dass er ursprünglich mit T. 323ff. beginnen sollte.
23Zitiert
nach Nowak, op. cit., S. 303.
24Kreysing,
op. cit., S. 56.
25Kreysing,
op. cit., S. 57.
26Vgl.
den Brief Rotts an Louise [Löwi/Löhr] vom 02. 06. 1880;
Kreysing, op. cit., S. 88: "Morgen ziehe ich in meine
schöne Landwohnung […]."
27Vgl.
die Nachricht Rotts an Friedrich Löwi/Löhr vom 24. 07.
1880 aus Glashütte; Harten, op. cit., S. 138. Anfang
Juli scheint Rott indes für einige Zeit nach Wien zurückgekehrt
zu sein; eine biographische Aufzeichnung ist mit "Wien
am 8. Juli 1880. Donnerstag." datiert (Kreysing, op.
cit., S. 106).
28Die
doppelte Schreibweise des Nachnamens wurde von Harten,
op. cit., passim, übernommen; zwischen 1887 und 1901
erfolgte die Änderung des Nachnamens der einzelnen Familienmitglieder;
vgl. Harten, op. cit., S. 250.
29Harten,
op. cit., S. 138. S. zu den im Brief genannten Personen
Joseph Saphier (1859-1940) und John Leo Löwi (1856-1883)
das Kommentierte Personenverzeichnis bei: Harten, op.
cit., S. 245-255.
30Zitiert
nach Nowak, op. cit., S. 303.
31Sk
1-4; s. unten Quellen.
32Zitiert
nach: Harten, op. cit., S. 133.
33Vgl.
Harten, op. cit., S. 30; Rott reicht schließlich für
diese Bewerbung offenbar nicht die Symphonie, sondern
ein Ende August vollendetes Streichsextett (Nr. 42)
ein; vgl. den Brief an Joseph Seemüller vom 09. 09.
1880, Harten, op. cit. S. 155.
34Vgl.
Loehr, in: Harten, op. cit., S. 87.
35Harten,
op. cit., S. 138f.: "Ich fahre Freitag Abends ½6 Uhr
mit dem Postwagen nach Rekawinkl [sic], von hier per
Bahn nach Wien und gleich zu Euch [...]."
36Harten,
op. cit., S. 155; zu Rotts Freund und Mitschüler in
der Kompositionssklasse Franz Krenns vgl. Harten, op.
cit., S. 252. Zur "Hörner Passage" vgl. Anm. zu Satz
4, T. 225-262.
37Harten,
op. cit., S. 157.
38Der
erste, noch sehr gewunden formulierte Bittbrief an Seemüller
stammt vom 23. 12. 1879; vgl. Harten, op. cit., S. 118f.
Im Verlauf des nächsten halben Jahres werden die Bitten
forscher und drängender; vgl. die Briefe an Seemüller
vom 05. 02. 1880 (Harten, op. cit., S. 120f.), 11. 02.
1880 (Harten, op. cit., S. 121f.), 22. 03. 1880 (Harten,
op. cit., S. 122), 10. 04. 1880 (Harten, op. cit., S.
127), 17. 04. 1880 (Harten, op. cit., S. 127f.), 28.
05. 1880 (Harten, op. cit., S. 132).
39Harten,
op. cit., S. 151.
40Harten,
op. cit., S. 155; ähnlich auch einen Tag später an Friedrich
Löwi/Löhr, doch nun wird die Enttäuschung durch Bagatellisierung
und Selbstüberhebung rationalisiert; ihm sei plötzlich
erst eingefallen, dass er wegen der Symphonie Donnerstags
zu Richter müsse, von dem es nun heißt: "Fritz, weißt
Du was das für mich ist, von Schwächlingen an der Nase
herumgeführt zu werden?"
41Harten,
op. cit., S. 158.
42Harten,
op. cit., S. 155.
43Harten,
op. cit., S. 165.
44Kreysing,
op. cit., S. 100.
45Maja
Loehr, in: Harten, op. cit., S. 90.
46Harten,
op. cit., S. 152. Harten, op. cit., S. 165.
47Zitiert
nach Maja Loehr, in: Harten, op. cit., S. 87.
48So
das Ausstellungsdatum von Rotts Reisepass; vgl. Harten,
op. cit., S. 93, Anm. 158.
49Zitiert
nach: Harten, op. cit., S. 27.
50Ebd.
51Der
Bescheid ist abgedruckt bei Kreysing, op. cit., S. 102.
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